Das diesjährige Bundestreffen der HSP-Selbsthilfegruppe Deutschland e.V. wurde am 30.06.2023 um 16:00 Uhr durch unsere Vorsitzende Monica Eisenbraun eröffnet. In diesem Jahr kamen ca. 80 Personen im relexa hotel Harz-Wald in Braunlage zusammen.
Freitag, 30. Juni 2023
Erster Programmpunkt war die Vorstellung der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. durch die Referentin Florence von Bodisco. Bei der ACHSE handelt es sich um den Dachverband von Organisationen/Vereinen, die sich um seltene Erkrankungen kümmern. Die ACHSE wurde 2004 gegründet und fand eine prominente Unterstützerin als Schirmherrin: Frau Eva Luise Köhler, Gattin des früheren Bundespräsidenten. Jedes Jahr am 28. Februar veranstaltet die ACHSE Events anlässlich des Tages der seltenen Erkrankungen.
Florence verwies auf die Website der ACHSE: www.achse-online.de, auf der immer Neuigkeiten und Aktionen zu finden sind. Zudem bietet die Seite ein Wiki mit krankheitsübergreifenden Informationen zu Themen wie Vereinsarbeit, Versorgung und Pflege. Zugleich wurden wir ermuntert, uns über Social Media mit der ACHSE zu verknüpfen und uns gerne in der ACHSE aktiv miteinzubringen.
Warum also benötigen die Seltenen einen Dachverband?
- Zur Bündelung ähnlicher Interessen der Betroffenen
- Für eine Gemeinsame Stimme in Politik, Wirtschaft, Medizin und Forschung
- Mehr Aufmerksamkeit generieren unddie Forschung ankurbeln
- Gegenseitiger Austausch bedeutet voneinander lernen und informieren
Den Seltenen eine Stimme geben, dies ist der Leitsatz der ACHSE! In unserer Selbsthilfegruppe ist die stellvertretende Vorsitzende, Frauke Krienke, für den Kontakt und Austausch mit der ACHSE zuständig.
Nächster Programmpunkt war der Vortrag von Dr. Schröter, Chefarzt der Neurologie, Klinik Hoher Meißner in Bad Sooden-Allendorf zum Thema „HSP und Autofahren – Wie geht das?“
Dr. Schröter räumte ein, dass es sich hierbei um ein schwieriges Thema handelt. Unsere Bewegungsstörung bedeutet Immobilität, das Autofahren hingegen sichert die Mobilität, insbesondere auf dem Land, häufig ohne einen zufriedenstellenden Nahverkehr. Das Thema wird meist von Arzt und Patient gemieden und belastet das Verhältnis beider.
In der Fahrerlaubnisverordnung heißt es: „Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. / Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen…, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen“. Wenn keine Fahreignung vorliegt, riskiert der Patient den teilweisen oder vollständigen Verlust des Versicherungsschutzes in der Kasko- und Haftpflicht-Versicherung (ggf. Regressanspruch des Versicherers) oder sogar eine Bestrafung gem. § 315c (StGB).
In den Begutachtungs-Leitlinien werden u.a. auch Krankheiten des Nervensystems erfasst. Wer darunter fällt, ist nach diesen Regelungen nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (LKW, Busse, etc.) gerecht zu werden. Ausnahmen von dieser Regelung erscheinen nur in seltenen Fällen möglich. Ob die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 (Mopeds, Krafträder, Pkw, etc.) gegeben sind, hängt von der Ausprägung der Symptomatik ab. Auf jeden Fall muss die neurologische Untersuchung ergeben, dass eine Kompensation möglich ist. Handelt es sich um fortschreitende Erkrankungen, sind Nachuntersuchungen in angemessenen Zeitabständen vorzusehen.
Dr. Schröter wies auf folgende Lösungsmöglichkeiten zur definitiven Klärung dieser Problematik hin:
- Medizinisches Gutachten zur Fahrtauglichkeit einholen
- (Behinderten-) Fahrschule aufsuchen, die umgebaute Fahrzeug vorhalten, mit Fahrproben
- Fahrzeug-Umrüsteraufsuchen (z.B. für Handgas, angepasste Lenkung etc.)
- Eignungsgutachten zum Führen eines KFZ (durch einen anerkannten SV des TÜV/derDEKRA) mit einer Fahrprobe und Festlegung der Auflagen und Beschränkungen
- Eintragen der Auflagen in den neuen Führerschein
- Kostenträger für diese Maßnahmen können folgende Institutionen sein:
- Agentur für Arbeit (< 15 Jahre Berufstätigkeit)
- Deutsche Rentenversicherung (> 15 Jahre Berufstätigkeit)
- Integrationsamt (Beamte, Selbständige)
Einen Zuschuss oder eine komplette Übernahme der Kosten bieten sogar manche Stiftungen an.
Am Abend kamen wir zum gemeinsamen Abendessen zusammen. Das erste Mal mit zugewiesenen Plätzen und Tischkarten! Damit sollte sichergestellt werden, dass die Rollstuhlfahrer an den Stirnseiten sitzen konnten und somit ein guter Ablauf für alle auf dem Weg zum Buffet möglich wurde.
Samstag, 1. Juli 2023
Nachdem am Freitag Dr. med. Carsten Schröter von der Klinik Hoher Meißner das Thema „Mobilität/Autofahren mit Behinderung“ eröffnete, ging es am Samstag gleich nach dem Frühstück praktisch weiter. Dipl. Wirtschafts-Ing. Andreas Zawatzky aus Meckesheim stellte seine Firma und deren Dienste für Behinderte vor. Unter dem Motto „Wir machen mobil“ baut das mobilcenter Zawatzky an zwei Standorten in Deutschland etwa 500 Fahrzeuge im Jahr so um, dass behinderte Fahrer ihr altes Fahrzeug mit Umbau, oder ein neues behindertengerechtes Auto nutzen können. Zum Service von Zawatzky mobil gehören vor der Umrüstung auch die ausführliche individuelle Beratung und dann die Fahrausbildung am neuen Auto.
Mit vielen Bildern beschrieb Andreas Zawatzky, welche Möglichkeiten es für die Umrüstung gibt. Die Bandbreite ist groß. Untenstehend gibt eine Präsentation, die unten auf dieser Seite heruntergeladen werden kann, detailliertere Auskünfte. In einem Film beschrieb eine junge Kundin ohne Arme ihre guten Erfahrungen – von der Beratung, dem Umbau, dem Training und ihrer Führerscheinprüfung bis zum täglichen Fahren.
Was die Kostenträger betrifft, stellte Andreas Zawatzky heraus, dass entgegen der Meinung vieler die Krankenkassen in keinem Falle zuständig sind. Um Vorsorge zu treffen und andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden, empfahl der Experte allen, die ihren Führerschein schon lange besitzen, sich mit einem Gutachten eines Arztes, der eine verkehrsmedizinische Qualifikation besitzt, die Fahrtüchtigkeit bestätigen zu lassen und damit beim TÜV vorzusprechen. Besser freiwillig vor als nach einem Unfall, war dabei seine Devise.
Wissenswertes: Die Kostenträger übernehmen den Umbau nur bei Fahrzeugen, die noch 50 Prozent ihres Neuwerts haben. Die einfache Umstellung eines Kfzs von Fuß- auf Handbetrieb kostet etwa 2.000 €. Es gibt auch einen Markt für gebrauchte umgerüstete Fahrzeuge, z. B. bei mobile.de. Nach dem Vortrag konnten zwei von Zawatzky umgebaute Fahrzeuge besichtigt werden.
Gleichzeitig fanden dann die Austauschgruppen, sowie eine Sportgruppe statt, in der drei unserer Mitglieder, die Rollstuhlbasketball spielen, manche anderen, unter ihnen auch etliche Nicht-Rollifahrer, für diesen Sport begeisterten. Das Wetter spielte mit, und die große Gruppe verbrachte eine spaßerfüllte Zeit.
Klein aber fein! An den Austauschgruppen nahmen in diesem Jahr weniger Personen als im letzten Jahr teil. Zu fünf Gruppenthemen kamen jeweils 6-12 Personen. Aber somit konnte Jede und Jeder zu Wort kommen und die vertrauliche Atmosphäre genießen. Die Gruppe mit den meisten Teilnehmern befasste sich mit dem Thema: Psychische Herausforderungen für Betroffene und Angehörige.
Bei jedem Jahrestreffen unseres Selbsthilfevereins berichtet ein Fachmann oder eine Fachfrau über den Stand der Erkenntnisse aus der Forschung über die HSP. In diesem Jahr konnte Prof. Dr. med. Stephan Klebe aus Essen dafür gewonnen werden. Für alle neuen Gäste erklärte er die Erkrankung und gab einen kurzen geschichtlichen Überblick der medizinischen Erkenntnisse darüber.
Mit eindrücklichen Beispielen veranschaulichte er dann manche Einsichten oder Probleme der Ursachen-Forschung. Wenn man z. B. Aminosäuren mit Zutaten für ein Rezept für Kekse vergleicht und beim Aufschreiben des Rezepts manche Buchstaben weglässt oder verändert, kann man das Rezept nicht mehr verstehen. Oder, wenn man das menschliche Genom, die Chromosomen und die Gene jeweils mit einer Bibliothek, einem Buch und einer Seite vergleicht, dann ist das Finden eines beschädigten Gens so aufwändig, wie den Schreibfehler unter 300 Kopien der Harry Potter-Saga zu entdecken, die aus etwa drei Billionen Buchstaben besteht.
Veränderungen in der DNA zu suchen, ist vergleichbar mit der Nadel im Heuhaufen.
Denn wir haben 20.000-25.000 Gene. Früher hat man immer nur ein Gen untersuchen können. Heute kann die Medizin dies mit dem „Whole Genome Sequencing“ für alle Gene auf einmal. Seit 2015 kostet diese Untersuchung nur mehr etwa 1.000 €. Es sind heute etwa 80 verschiedene Formen der HSP bekannt.
Prof. Dr. med. Klebe stellte seinem Publikum das Treat HSP.net vor und plädierte dafür, dass sich jeder HSP-Erkrankte dort einklingt. Dieser Zusammenschluss von Forschern, Neurologen und Neuropädiatern ist ein internetbasiertes Netzwerk, das die Daten möglichst vieler Teilnehmer sammelt und auswertet. Von 6.000 bis 8.000 betroffenen Erkrankten in Deutschland sind etwa 1.000 Patienten erfasst, die sich in den klinischen Zentren behandeln und beraten lassen. Das Treat HSP net arbeitet mit den drei deutschen HSP-Selbsthilfegruppen zusammen: Tom Wahlig Stiftung, Ge(h)n mit HSP und mit unserer HSP-Selbsthilfegruppe. Die erhobenen Daten werden anonymisiert.
Herr Klebe stellte dann kurz die bereits bekannten Therapien, Hilfsmittel und Medikamente vor und deren Wirksamkeit vor. Nicht alle Studien zu Medikamenten wie z. B. Botox sind tatsächlich anerkannt, weil oft die Placebogruppe fehlte. Prof. Dr. Klebe machte seinen Zuhörern Hoffnung, dass es bald auch genetische Therapien geben wird. Auch zu Prof. Dr. Klebes Vortrag ist auf dieser Seite unten eine Präsentation verfügbar.
Nach einer Kaffeepause stellte Uwe Daniek vom diesjährigen Orgateam eine Familie vor, die ihr Leben trotz drei betroffenen erkrankten Mitgliedern gut meistert. Mutter Sandra Lammering war anwesend, beantwortete Uwes Fragen und berichtete über ihre beiden Söhne Maximilian und Julian, die in der Rollstuhlbasketball-Bundesliga spielen. Ein kurzer Film erklärte dem Publikum, wie sich eine Rollstuhlbasketball-Mannschaft zusammensetzt und warum die Rollstühle so anders aussehen.
Sandra schilderte sehr offen, dass es für ihre Jungs vor allem in der Schule nicht immer einfach war. Sie hatten z. B. mit fehlenden Aufzügen oder verständnislosen Sportlehrern zu kämpfen. Ihre Liegefahrräder passten nicht in den Radkeller, die Behindertentoilette konnte nicht abgeschlossen werden. Die Barrieren legten dabei eher die Lehrer und Behörden als die anderen Schüler, die sehr hilfsbereit waren. Der Sport hat viel dazu beigetragen, dass die beiden Jungen heute selbstbewusst sind, sich nicht mehr verstecken. Julian sagte einmal in einem anderen Interview: „Man muss weg von dem Denken, den Rollstuhl als Hilfsmittel zu sehen, sondern als Sportgerät.“
Uwe und Sandra konnten nicht verbergen, dass sie selbst begeisterte Hobby-Basketballer sind. Sie motivierten das Publikum, Sport zu nutzen. Ein Sportrollstuhl kostet etwa 6.000-8.000 €. Wer neu in einen Verein geht, leiht sich den Rollstuhl erst einmal. Eine Liste der möglichen Sportarten mit Rollstuhl beendete das persönliche Interview: Basketball, Badminton, Tischtennis, Tanz, Handball, Leichtathletik, Reiten.
„Sport gibt so viel, jeder von uns sollte es nutzen,“ sagte Sandra Lammering am Ende.
Nach dem Interview referierte Dipl. Psychologe Rainer Beese über den Umgang mit veränderter Mobilität. Er stellte heraus, dass die persönliche Mobilität auch für den Gesetzgeber ein wichtiges Gut ist, das nicht ohne Grund eingeschränkt werden darf. Die Sicherheit anderer und die Pflicht zur Vorsorge begrenzt diese Freiheit aber in manchen Fällen. Die Verantwortung dafür trägt allein der Fahrzeugführer, so Beese.
Eingeschränkte Mobilität kann uns Angst machen, unsere Autonomie bedrohen. Es gibt zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Wir können die Strategie „duck and cover“ anwenden, also uns ducken, die Angst ignorieren und verdrängen. Wir können sie aber auch offensiv angehen. Wenn wir uns über unsere Rechte und Pflichten informieren, führt das zu mehr Klärung und Sicherheit. Angst hat immer zwei Seiten. Sie warnt uns, aber sie kann uns auch motivieren, aktiv zu werden. Das Thema Fahreignung kann eine Krise auslösen. Aber jede Krise hat Stadien, die wir überwinden können. Von der Leugnung zum Widerstand, der Bejahung kann sie schließlich zur Integration führen. Am Ende listete Rainer Beese einige Fragen auf, die uns in Krisen helfen, Lösungen zu finden.
Als hilfreiche Fragen zur Vorbeugung einer Krise erwiesen sich:
- Wie habe ich vergleichbare Situationen gemeistert
- Was kann schlimmstenfalls geschehen
- Wer unterstützt mich
- Was würde ich einem Freund empfehlen
- Was bedeutet Lebensqualität für mich
- Woran habe ich Freunde
Was hat mir heute gutgetan
Rainer Beese schloss mit einem Zitat von Max Frisch:
„Krise ist produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Auch sein Vortrag ist unten auf dieser Seite als Präsentation einsehbar.
Der angekündigte Vortrag von Dr. Vance über Urologie und Sexualität musste leider ausfallen. Dr. Vance sagte seine Teilnahme sehr kurzfristig wegen familiärer Gründe ab. Ein Ersatz konnte so schnell nicht gefunden werden.
Neuigkeiten der TWS
Zum Ende unseres Jahrestreffens stellte Susanne Wahlig noch einmal die Tom-Wahlig-Stiftung (TWS) vor. Sie berichtete, dass in diesem Jahr das 25-jährige Jubiläum der Stiftung gefeiert werden konnte. Ihr Schwiegervater und Gründer der Stiftung, Tom Wahlig, beschloss zu seinem 60. Geburtstag die Gründung einer Stiftung zur Förderung der medizinischen Forschung zur HSP.
Die TWS finanziert Wissenschafts-Projekte und fördert den internationalen Austausch zwischen Forschern. Sie arbeitet eng mit unserer Selbsthilfegruppe, der Gruppe Ge(h)n mit HSP, dem Netzwerk treatHSP.net und der Eurordis zusammen.
Nach Henry Wahligs Walking Challenge im Jahr 2020 macht sich am 22. Juli 2023 Christina, Mutter einer 8-jährigen Tochter, auf einen Megamarsch gegen HSP. Sie ist entschlossen, alles dafür zu tun, um ihrer Tochter zu helfen und die Erforschung der HSP-Erkrankung voranzutreiben. Unterstützt wird sie bei diesem Lauf durch Teamkolleg*innen und ihren Arbeitgeber, der für jeden gelaufenen Kilometer einen Euro spendet. Auch diese Aktion macht nicht nur die seltene Erkrankung HSP bekannt, sondern sie generiert Spenden für die Stiftung. Auf der Website hsp-info.de erfährt man, wie der Megamarsch, und damit die TWS unterstützt werden kann.